Wo martensitischer extra- und ultrahochfester Stahl für die Automobilindustrie vorgesehen ist

Was müssen Autokonstrukteure über bevorstehende Entwicklungen bei der Herstellung, Umformung und Anwendung von martensitischen Stählen wissen?

Mehr über martensitischen Stahl

Unser Interview mit Kenneth Olsson, der seit 40 Jahren in der Stahlindustrie tätig ist, deckt folgende Themen ab:

  • Batteriebetriebene Elektrofahrzeuge als Triebkraft für dickere martensitische Güten (bis zu 4 mm).
  • Neue Kaltstanztechnologien (anstelle von Rollumformen), die Bauteilkonstruktionen in 3D-Geometrien aus martensitischem 1.500-MPa-Stahl ermöglichen.
  • Wie Autohersteller zunehmend Kaltumformung von martensitischen Stählen einsetzen, wodurch einige PHS- und hochfeste DP-Stahlanwendungen verdrängt werden.
  • Gibt es genug Nachfrage, um einen martensitischen Stahl mit 1.900 MPa zu entwickeln?

Kenneth Olsson arbeitet seit 35 Jahren bei SSAB, darunter 10 Jahre bei der Produktentwicklung von martensitischen und anderen extra- und ultrahochfesten Stahlgüten. Olsson ist derzeit Experte für Geschäftsentwicklung bei SSAB Automotive.

Wie kam es dazu, dass SSAB als erstes Unternehmen in Europa martensitischen extra- und ultrahochfesten Stahl (AHSS) für Automobilhersteller angeboten hat?

Wir waren der erste europäische Stahlerzeuger, der in eine Bandglühanlage investiert hat. Wir entschieden uns für die Verwendung der japanischen Vergütungstechnologie, die damals führend war. Durch Wasservergütung hat unsere Bandglühanlage eine sehr hohe Abkühlgeschwindigkeit und kann martensitische Stähle herstellen. Über viele Jahre waren wir das einzige Werk in Europa, das diese Güten entwickeln und herstellen konnte. Wir sind wirklich Pioniere bei martensitischem Stahl.

Wie haben die Autohersteller auf den neuen martensitischen Stahl reagiert?

Der Markt war sehr zögerlich, da er so neu war. Für martensitische Stähle gab es nur einen US-Hersteller und SSAB. Das war’s. Die erste Verwendung für martensitischen Stahl von SSAB war der Bau von äußerst verschleißfesten Förderbändern, die zum Beispiel von Keksherstellern verwendet wurden. Dann wurde er für die Zehenschutzkappen in Sicherheitsschuhen verwendet.

Schuhe und Förderer für Kekse?

Zunächst ja. Doch dann begannen rund 30 internationale Stahlerzeuger, an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten: die Autos leichter und sicherer zu machen. Das ULSAB-Projekt (Ultralight Steel Auto Body) hat die Verwendung von extra- und ultrahochfestem Stahl und auch von martensitischem Stahl in Autos vorangebracht. Wir haben gezeigt, wie martensitischer Stahl die Crashleistung verbessern, das Gewicht reduzieren und ein sehr kosteneffektives Material sein kann.

Spielten Bedenken wegen der Umformbarkeit eine Rolle bei der Zurückhaltung der Autohersteller gegenüber martensitischem Stahl?

Ja. Die erste martensitische Güte von SSAB hatte eine Zugfestigkeit von 1.400 MPa und eine Streckgrenze von 1.150 MPa. SSAB muss bei extra- und ultrahochfesten Stählen zwei Aufgaben lösen: Erstens müssen wir ermitteln, wie diese festen, leichten Stähle hergestellt werden können, und zweitens müssen wir unsere Kunden – Autohersteller und wichtige Zulieferer – darüber aufklären, wie sie Konstruktionen aus extra- und ultrahochfesten Stählen simulieren, umformen und zusammenfügen können.

Welche Bedenken hatten die Autohersteller beim Zusammenfügen von martensitischem Stahl?

Martensitischer Docol® Stahl hat zwar eine sehr schlanke Zusammensetzung, enthält aber dennoch einige Legierungen und Kohlenstoff. Daher müssen Sie Ihre Schweißparameter entsprechend anpassen. Und Sie müssen verstehen, wie zum Beispiel duktile Punktschweißungen bei der Verwendung von martensitischen Stählen erzielt werden können. Martensitischer Docol Stahl konkurriert in gewissem Maße mit pressgehärteten Stählen (PHS), auch bekannt als warmumgeformte Stähle, die auch ultrahochfest (UHSS) sein können. PHS-Stähle haben aber einen höheren Anteil an Legierungen und Kohlenstoff, so dass es komplizierter ist, PHS zu schweißen als martensitischen Docol Stahl.

SSAB hat sich bewusst für kaltumgeformte martensitische Produkte entschieden, oder?

Ja. Aber SSAB bietet selbstverständlich auch pressgehärtete Stähle an. Einige Autohersteller sind mit Heißstanzen vertrauter, und sie möchten wir natürlich auch gern versorgen. Pressgehärtete Stähle müssen jedoch in der Pressenanlage oder in einem Ofen vor der Pressenanlage auf 900 °C erwärmt werden. Dann heißstanzen Sie es und müssen danach das Teil im Werkzeug abschrecken. Der Prozess mit PHS-Stählen ist also definitiv ein komplizierterer, langsamer, teurer und energieintensiverer Prozess als mit kaltumgeformten martensitischen Komponenten, wenn eine ähnliche hohe Festigkeit erzielt werden soll.

Warum bevorzugen dennoch einige Hersteller Heißstanzen gegenüber Kaltumformen?

Wenn PHS-Stahl 900 °C heiß ist, ist er sehr weich und daher sehr leicht umzuformen. PHS-Stahl erhält seine martensitische Mikrostruktur während des Presshärtens. SSAB ist andererseits der Auffassung, dass es Vorteile für uns gibt, wenn wir die Wärmebehandlung in unseren genau überwachten Werken durchführen. Dann schicken wir die wärmebehandelten martensitischen Coils zu den Kunden und sie können sie dann einfach bei Raumtemperatur kaltstanzen. Das sind weniger Verarbeitungsschritte für den Kunden. Doch wie bei jedem hochfesten Stahl bedeutet Kaltumformen, dass Sie die Rückfederung verstehen und einkalkulieren müssen. Dabei können wir dem Kunden helfen.

Kenneth Olsson
Kenneth Olsson Automotive Business Development Specialist bei SSAB.

SSAB führte 1993 seine erste martensitische 1.400-MPa-Güte ein. Wie hat SSAB beschlossen, die martensitische Linie auf andere Festigkeitsgüten auszudehnen?

SSAB ergänzte den 1400M um unser 1200M. In den USA verwendete General Motors etwas früher als andere Hersteller martensitischen Stahl für rollumgeformte Bauteile wie Stoßfängerverstärkungen, Seitenaufprallträger und einige Sitzkonstruktionskomponenten. Doch GM und dann Ford und Chrysler wollten Zugfestigkeiten von 900 MPa, 1.100 MPa, 1.300 MPa, 1.500 MPa und schließlich 1.700 MPa. Daher passte SSAB unser Geschäft an den Materialbedarf unserer Kunden an. Unsere neueste martensitische Güte mit 1.700 MPa wird zum Beispiel von Shape Corporation für die Herstellung des Dachträgers für den Ford Explorer 2020 verwendet.

Gibt es bei SSAB Pläne, bei der martensitischen Festigkeit noch höher zu gehen?

Wir könnten eine kaltumformbare martensitische 1.900-MPa-Stahlgüte entwickeln, aber es muss ein angemessenes Kundeninteresse bestehen. Einige Kunden sprechen mit uns bereits über einen 1900M. Aber wir verstehen auch, wie unsere Kunden die Entwicklung bei extra- und ultrahochfesten Stählen für die Automobilindustrie betrachten. Unsere aktuellen martensitischen Güten wurden vor einigen Jahren entwickelt. Es kann noch einige Zeit dauern, bis die Herstellerstandards und regionalen Normen wie der Verband der Automobilindustrie (VDA) und die US-amerikanische Gesellschaft der Automobilingenieure (SAE) für jede Güte fertiggestellt sind. Doch wenn die Normen für eine Güte schließlich festgelegt werden, gewinnen die Kunden zusätzliches Vertrauen in ihre Verwendbarkeit.

Was wäre der Hauptantrieb für Autohersteller oder wichtige Zulieferer, um einen martensitischen 1.900-MPa-Stahl zu verlangen?

Ein Hauptantrieb ist natürlich das geringere Gewicht. Aber ich gehe nicht davon aus, dass in den kommenden beiden Jahren ein 1900M entsteht, weil sich der 1700M gerade etabliert – bei den Kunden und in den Normengruppen. Derzeit liegt ein großer Schwerpunkt auf dem 1500M, der traditionell für gerade oder gebogene Profile rollumgeformt wird. 

Gibt es andere Möglichkeiten, um Fahrzeugteile aus martensitischem 1.500-MPa-Stahl zu formen?

Ja. Die Japaner, die eher auf Kaltstanzen als auf Rollumformen setzen, führen neue Kaltstanztechnologien für hochfeste Stähle ein. Dies ist ein großer Schritt nach vorn. Durch Rollumformen entstehen nur die geraden oder gebogenen Profile, doch ein kaltumgeformtes Profil kann wie ein dreidimensionales aussehen. Ich würde sagen, dass alle japanischen Autohersteller jetzt die Einführung von kaltumgeformten Bauteilen aus 1.500-MPa-Stahl in den Autos anstreben, die sich derzeit in der Entwicklung befinden.

Welche Art von martensitischen Bauteilen, die nicht rollumgeformt werden können, könnten Sie kaltstanzen?

Die B-Säulenverstärkung zum Beispiel hat eine Form, die sich schwer rollumformen lässt. Und die Verstärkung der Scharnierzapfen hat in der Regel eine 3D-Geometrie, die kaltgestanzt, aber nicht rollumgeformt werden kann.

Muss SSAB etwas für Docol 1500M tun, damit es für Kaltstanzen besser geeignet ist?

Ja, es wird sich wahrscheinlich um eine leicht modifizierte Version handeln. Beim Rollumformen ist es von Vorteil, eine höhere Streckgrenze, verglichen mit der Zugfestigkeit, zu haben. Beim Kaltstanzen ist es etwas besser, eine niedrigere Streckgrenze zu haben, um die Rückfederung im gebogenen Teil des geformten Bauteils zu steuern.

SSAB muss also verstehen, wie der Kunde unsere Stähle umformen möchte.

Das stimmt. Aus diesem Grund fordern wir unsere Kunden auf, uns schon frühzeitig in ihrem Konstruktionsprozess einzubeziehen, damit wir ihre Anliegen besser angehen und ihre Bedürfnisse erfüllen können. So sind einige Autohersteller bei der Verwendung von martensitischen Stählen ein wenig konservativ gewesen – insbesondere bei elektroverzinktem martensitischem Stahl, weil sie Bedenken wegen verzögertem Bruch hatten, der auch als Wasserstoffversprödung bekannt ist. SSAB hat mit unserem elektroverzinkten martensitischen Stahl wirklich einen einzigartigen Vorteil. Wir beginnen mit einer schlankeren Stahlzusammensetzung und steuern dann sehr präzise den Verzinkungsprozess, um die Möglichkeit eines verzögerten Bruchs zu verhindern. Unsere Technologie ist sehr sicher und eingeführt.

Wie konkurriert martensitischer Stahl mit Aluminium bei der Autokonstruktion?

Aluminium ist bei Autoherstellern sehr beliebt. Doch selbst dann sehen Sie in der Regel eine Kombination aus Aluminium und extra- und ultrahochfestem Stahl wie etwa martensitischem Stahl. Ich denke, die optimale Karosserie ist wahrscheinlich eine Kombination aus Aluminium für die ausgesetzten Teile – die keine Aufprallenergie absorbieren – und dann möglichst festem extra- und ultrahochfesten Stahl für die Crashteile und energieaufnehmenden Bauteile.

Und was ist mit den Autos unterhalb der Luxusklasse – den Massenfahrzeugen?

Mit extra- und ultrahochfesten Stählen erhalten Sie ungefähr dasselbe Gewicht wie mit Aluminium, aber zu weniger als der Hälfte der Kosten. Bei Automodellen, bei denen die Kosten im Vordergrund stehen, verwenden die Hersteller immer häufiger extra- und ultrahochfesten Stahl.

Wie unterscheidet sich martensitischer Docol Stahl von SSAB von anderen Produkten?

Unsere langjährige Erfahrung bei der Entwicklung und Herstellung von martensitischen Stählen hat uns in die Lage versetzt, unsere Prozesstechnologie zu perfektionieren. Das gilt etwa für die höchstmögliche Abkühlgeschwindigkeit, die es uns ermöglicht, eine äußerst schlanke Legierungszusammensetzung zu verwenden. Die chemische Zusammensetzung von martensitischen Docol Stählen ist sehr viel schlanker als die der meisten unserer Wettbewerber, was das Schweißen einfacher und den Stahl beständiger gegen verzögerten Bruch macht. Wie ich bereits erwähnt habe, werden unsere verzinkten Güten von martensitischem Docol Stahl sehr geschätzt, um die Probleme durch verzögerten Bruch anzugehen. SSAB verfügt aber auch über viele sehr erfahrene Fachleute bei der Produktentwicklung und unser KSC (Knowledge Service Center), um Kunden bei der Verwendung von martensitischen Stählen zu helfen. Zum Beispiel, wie Umformsimulationen für Autobauteile durchgeführt werden. Oder wie man martensitischen Stahl zusammenfügt.

Wie entwickeln Autohersteller ihre Fertigungsprozesse weiter, um mit martensitischen Stählen zu arbeiten?

Wir haben einige Hersteller, die bislang Dualphasenstähle bis 1.000 MPa verwendet haben und direkt auf Heißstanzen für höhere Festigkeiten umstellen – aber sie versuchen jetzt, martensitische Stähle kaltzustanzen.

Was befindet sich noch in der Entwicklung bei den martensitischen Docol Produkten?

Wir haben bereits über höhere Festigkeitsgrade gesprochen – aber eine andere Möglichkeit, um Verbesserungen zu erzielen, ist, die martensitischen Güten dicker zu machen. Unser vorhandener kaltgewalzter, im Durchlauf geglühter martensitischer Stahl hat eine maximale Dicke von 2,1 mm. Mit unserer neu installierten Kühlungsanlage in unserem Warmwalzwerk können wir auch warmgewalzte martensitische Stähle herstellen, die direkt im Warmwalzprozess vergütet werden und Dicken bis zu 4 mm erreichen. Für die Kunden ist jetzt martensitischer Docol Stahl mit 1.200 MPa und einer Dicke von 4 mm erhältlich. Und als nächstes entwickeln wir einen dickeren, warmgewalzten 1500M Stahl.

Dachkoffer von Shape für Ford
Dachkoffer von Shape für Ford
Shape MonoLeg Stoßfänger
Shape MonoLeg Stoßfänger.

Wie könnten Autokonstrukteure den neuen dickeren martensitischen Docol Stahl verwenden?

In batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen können die Batterie und ihr Schutzgehäuse bis zu 800 kg wiegen. Deshalb brauchen Elektrofahrzeuge festere Aufprallträger. Sie können Elektrofahrzeuge fester machen, indem Sie die Festigkeit des verwendeten Stahls erhöhen oder die Stahldicke erhöhen, oder beides machen.

Gibt es andere Anwendungen für dickeren martensitischen Stahl?

Angesichts der neuen, strengeren Crashbestimmungen könnte es vorteilhaft sein, den neuen, dickeren martensitischen Stahl zum Beispiel für Stoßfänger zu verwenden. Doch das hohe Gewicht von Elektrofahrzeugen ist der Hauptantrieb für dickere martensitische Güten – alle crashrelevanten Autoteile müssen fester gemacht werden. Daher erfordern einige Komponentenkonstruktionen höhere (Zug-)Festigkeitsgrade bei unseren vorhandenen Dicken von bis zu 2,1 mm. Andere Konstruktionen werden von der Verwendung der neuen, dickeren (bis zu 4 mm dicken) martensitischen Güten profitieren, die derzeit mit einer Zugfestigkeit von 1.200 MPa erhältlich sind, sowie der dickeren 1500M, die derzeit in der Entwicklung ist.

Prototyp eines Batteriegehäuses für Elektroautos.
Prototyp eines Batteriegehäuses für Elektroautos.

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